Es
ist keine Seltenheit, dass in einer Situation, in der ein vielleicht
5jähriger Mensch einem Erwachsenen etwas erzählt wie „Der Sowieso
hat mich gehauen!“, er Reaktionen erhält wie „Und was hast du
gemacht?“ Die Betonung liegt dabei auf dem „du“ und
gemeint ist hier natürlich nicht hinterher, sondern vorher: Was hast
du angestellt, dass der andere dann so sauer auf dich war? Was
impliziert, dass du doch bestimmt irgendwie selbst Schuld
bist, dass der Sowieso dich gehauen hat.
Solche
Reaktionen sind umso weniger eine Seltenheit, je älter dieser
Sowieso ist. War es der gleichaltrige Kindergarten-Kumpel, kommen
eher noch Antworten wie „Och, das war ja gemein vom Sowieso, dass
der dich gehauen hat!“ oder Verhaltens-Tipps für die Zukunft wie
„Beim nächsten Mal sag ganz laut 'STOPP, das will ich nicht!'“
oder „Geh dem einfach aus dem Weg, wenn der dich hauen will“ oder
gar der kühne Ratschlag „Am besten hau zurück, damit der merkt,
dass das weh tut!“ War der Sowieso aber beispielsweise die
Erzieherin und die Situation folgendermaßen: „Die Sowieso hat heut
ganz doll mit mir geschimpft!“, dann ist die oben genannte Reaktion
äußerst wahrscheinlich.
Auch
wenn mir eine solche Reaktion gar nicht gut gefällt, so muss ich
zugeben, wenn mir eine befreundete Lehrerin erzählen würde „Eine
meiner neuen Erstklässlerinnen hat mich heute krankenhausreif
gebissen!“, dann würde sofort aus mir herausplatzen „Oh mein
Gott, was hast du gemacht?!“
Die BILD-Zeitung berichtete vor ein paar Tagen von einer solchen Begebenheit an einer Grundschule in Rostock unter der Schlagzeile "Erstklässlerin(7) beißt Lehrerin krankenhausreif"
Die BILD-Zeitung berichtete vor ein paar Tagen von einer solchen Begebenheit an einer Grundschule in Rostock unter der Schlagzeile "Erstklässlerin(7) beißt Lehrerin krankenhausreif"
„Gerade
einmal drei Tage nach Schulbeginn“ sei eine 7jährige
Erstklässlerin „wutgeladen“ auf ihre Lehrerin losgegangen, heißt
es, und habe diese so heftig
gebissen, dass die „verletzte Frau“ den Notruf wählte und später
ins Krankenhaus gebracht wurde.
Interessanterweise
habe die Schulamtsleiterin des zuständigen Staatlichen Schulamtes
den Sachverhalt als „nicht darstellungsbedürftig“ bezeichnet.
Was Medien aus einem solchen „nicht darstellungsbedürftigen“
Fall so alles machen, werde ich gleich beschreiben... Allerdings
wüsste ich tatsächlich gern, was vorgefallen sein muss, dass dieses
junge Mädchen derart „wutgeladen“ war...
Im
Focus wird der Vorfall aufgegriffen mit dem Hinweis „Eine
Grundschülerin ging in Rostock grundlos auf ihre Lehrerin los“.
Interessant, diese Zuschreibung - „grundlos“ - wo doch die
(Hinter)Gründe noch ermittelt werden müssen.
Bemerkenswert
formulierte der Berliner Kurier den Vorfall, demnach eine „erst
sieben Jahre alte Schülerin auf dem Schulhof ihre Lehrerin
angegriffen“ habe. „Das Mädchen bekam einen Wut-Anfall und
attackierte die Pädagogin.“ (Sind Lehrer und Pädagogen eigentlich
dasselbe, wo es doch unterschiedlichste Studiengänge dazu gibt?
Hinzugedichtet wurde hier noch eine Ortsangabe, die gar nicht
stimmte, aber doch eine passende Kulisse für die Fantasie der Leser
angibt.)
Eine
Österreichische Zeitung formuliert es noch besser zum Thema
„Schulbeginn in Deutschland“: „7-Jährige schlägt und beißt Lehrerin krankenhausreif",
genauer „schlug,
trat und biss“ das Mädchen hier auf ihre Lehrerin ein und „biss
schließlich so fest zu, dass die Lehrerin im Krankenhaus behandelt
werden musste“.
Doch,
es war noch zu toppen mit dieser Schlagzeile: „Unglaublich! Zweitklässlerin (7) prügelt Lehrerin ins Krankenhaus“. Hier
ereignete sich in einer Rostocker Grundschule eine
„Prügelattacke der ungewöhnlichen Art, bei der eine Lehrerin
verletzt wurde“: „Ein
7-jähriges Mädchen ging wie im Wahn auf ihre Lehrerin los und
prügelte auf sie ein“, heißt es, „Durch die Tritte und Schläge
der Zweitklässlerin erlitt die Frau zahlreiche Verletzungen. Nachdem
die Lehrerin den Notruf gewählt hatte, eilten mehrere Rettungswagen
und die Polizei zu der Grundschule. Durch ruhiges Zureden konnten die
Beamten die Situation schlichten.“
So
wurde das Monster immer größer in einer Welt, in der bekanntlich
die Schüler doch immer gefährlicher und die Lehrer immer
gefährdeter seien...
Ich
erinnere mich an einen Fall einer Arbeitskollegin, der sie sehr
betrübte. Ihr junger Klient war aufgrund starker
Verhaltensauffälligkeiten in einer Wohngruppe gelandet, wo er auch
„grundlos“ und unberechenbar auf eine Betreuerin losgegangen sei.
Ich ließ mir die Situation näher erzählen.
Der 9jährige Junge sei eines Morgens von der Betreuerin geweckt
worden, in dem diese ins Zimmer kam, die Vorhänge aufriss und ihm
die Decke wegzog. Da sei er ausgerastet. Leider vermisse ich häufig
die genaue Betrachtung solcher Konfliktsituationen, die uns
Aufschluss geben würde über die Motive und Bedürfnisse der
Beteiligten und uns erkennen ließe, dass niemand „grundlos“ auf
jemanden losgeht.
Die
Nachrichten-Berichterstattung repräsentiert und schürt jedoch die
üblichen Reaktionen und Sichtweisen derer, die davon lesen und
hören:
1.
„Die arme Lehrerin!“: Ja, da haben wir's, der Lehrerberuf wird
immer gefährlicher aufgrund der immer gewalttätiger und
respektloser werdenden Schülerschaft!
2.
„Die böse Lehrerin!“: Die ist bestimmt selbst Schuld, grausam
wie Lehrer oft die Schüler behandeln!
3.
„Das arme Kind!“: Was ist nur in dem schrecklichen Elternhaus
los, in dem ihm entweder Gewalt, Verwahrlosung oder schlechte
Erziehung widerfährt!
4.
„Das böse Kind!“ (beliebt in den Medien): Das Monster, das
grundlos und unberechenbar gewalttätig ist.
5.
„Das kranke Kind!“: Aufgrund dieses heutzutage beliebten Trends,
in den auch die Punkte 3 und 4 münden, sind die Kinder- und
Jugendpsychiatrien bis zum Platzen voll.
Nur,
um mich etwas polemisch darüber lustig zu machen, wäre dieser
Medienfall mir keinen Kommentar wert gewesen. Mir geht es tatsächlich
um eine wichtige Überlegung angesichts der zu beobachtenden Gewalt
(an Schulen), die ja immer wieder in aller Munde ist. In
unterschiedlicher Weise werden die verschiedenen Protagonisten dabei
als „Schuldige“ unter die Lupe genommen: Die Lehrer, die sich
nicht durchsetzen, oder die unfähigen Eltern oder die gestörten
Schulkinder. Gerne wird ein Szenario beschrieben, in welchem uns ein
Täter und ein Opfer dargeboten wird – nur wer ist hier wer? Da wir
davon ausgehen müssen, dass sowohl die Lehrerin als auch die
Erstklässlerin beide sowohl Täterin als auch Opfer sind
(schließlich landeten beide im Krankenhaus), sind uns diese
Zuschreibungen nicht nützlich.
Gewaltgeschichten
wie diese sind gerade deswegen darstellungsbedürftig, da sie
Symptome sind für eine Grundproblematik: Gewalt, die junge Menschen,
die aufgrund struktureller Bedingungen diskriminiert werden, bei uns
erfahren. Auch wenn es so aussieht und uns am bequemsten erscheint,
so kann es nicht nur um die individuelle Gewalt gehen und darum,
Einzelne als Schuldige, als Täter und Opfer zu identifizieren.
Wir
müssen uns der folgenden Frage stellen: Welchen Anteil haben wir
alle an der Gewalt Einzelner gegen sich selbst und andere? Welchen
Anteil hat jeder einzelne an der Gewalt, die hier die Lehrerin
ausübte und hat erdulden müssen, und an der Gewalt, die die
7Jährige erfahren und ausgeübt hat?
„Hä?“, wird sich manch
einer fragen, „Was hab ich damit zu tun?“ Vielleicht
in speziell diesem Fall, den ich als (reißerischen) Aufhänger
genutzt habe, nicht wirklich was. Wir alle prägen jedoch als
einzelne und gemeinsam eine Grundhaltung, ein Menschenbild, Denk- und
Bewertungsstrukturen, die einen kollektiven Raum und Rahmen bilden,
in welchem individuelle und strukturelle Gewalt entstehen (und auch
wieder verschwinden!) kann. Beispielsweise in Form der oben genannten
„üblichen Reaktionen und Sichtweisen“ (den Punkten 1 bis 5), die
wir denken und eventuell kundtun.
Ich
spreche nicht von Schuld. Ich spreche von Anteil, der je nachdem
größer oder kleiner sein kann. Ich spreche von Verantwortung, die
sich auf uns alle aufteilt und die wir alle tragen, ob wir dies
wollen, akzeptieren oder nicht. Daher hat auch jeder von uns Einfluss
auf Minderung von Gewalt. Ein Schritt dafür ist, „hinter“ die
Situationen zu schauen und vor allem die kleineren und die größeren
Kontexte zu berücksichtigen, in denen sie stattfinden.
In
der Aufhänger-Geschichte habe es sich übrigens schließlich um die
Schulleiterin gehandelt, die gebissen wurde, und die 7Jährige sei
wütend gewesen, weil sie noch keinen Hortplatz bekommen habe, der
ihr anscheinend sehr wichtig gewesen sein muss... eine merkwürdig
klingende Geschichte. Was wirklich konkret in der Szene gesagt und
getan oder nicht gesagt und getan wurde, so dass eins zum anderen
führte, wird wohl ein Geheimnis bleiben...
* * *
Wer
es noch nicht kennt:
Macht mit beim Aufruf „Gewalt? Ohne mich!“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen