Mittwoch, 21. August 2019

Film Rezension: CaRabA #LebenohneSchule

Hoffentlich wird es in zwei Jahren so sein, wie in dem Film, dass alle Menschen ernst genommen werden.“
(Nele, 12)
 
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Auf die Aussage „Eine Welt ohne Schule – das geht doch gar nicht!“ hat der Spielfilm CaRabA die Antwort. Gewissermaßen hat CaRabA bereits die Welt bewegt, indem es ihm gelungen ist, weit über einen Tabubruch hinauszugehen. Hier wird nicht das Unhinterfragbare in Frage zu stellen versucht, sondern es ist schlichtweg nicht mehr da:
CaRabA zeichnet die Vision einer Welt ohne Schulen. Diese Vision ist keine Utopie, sondern wird als echte, authentische, lebensnahe Wirklichkeit sichtbar und fühlbar.
Der Film geht dabei weit hinaus über sein Anliegen, die Landschaften des Frei-sich-Bildens zu malen, um damit eine Grundsatzdiskussion zu entfachen über das Wesen dessen, was wir „Bildung“ nennen. Vielmehr zeigt CaRabA menschliches Zusammenleben nach der Überwindung eines Menschenbildes, welches heute noch dafür verantwortlich ist, dass unser Nachwuchs in einer Welt heranwächst, die von individueller und struktureller Gewalt geprägt ist. Einer Welt, in welcher ihm derzeit noch eine (auch kollektive) Missachtung seiner Potenzen, seiner Bedürfnisse und seiner Grundrechte widerfährt.
Beispielhaft zeigt sich unsere aktuelle Lage in einer teils hitzigen Auseinandersetzung um einen Film, der seit Kurzem die Gemüter bewegt und eine Kluft zwischen Positionen deutlich macht, die entfernter nicht voneinander liegen können.
Eine Kluft, die darin wurzelt, dass Gewalt als Ansichtssache deklariert wird: der Dokumentarfilm Elternschule.
Eine Welle des Entsetzens und der Empörung löste allein der Filmtrailer aus, die im Kontrast steht zu der Selbstsicherheit, mit der die Filmemacher, die Protagonisten und die Medien den Film und die darin gezeigten Inhalte vertreten und vermarkten. Völlig widersprüchlich sind die Reaktionen im Publikum, in welchem Menschen zutiefst schockiert und weinend sich wiederfinden inmitten von Leuten, die lachen und nach Filmschluss applaudieren. In Diskussionen in sozialen Netzwerken treffen Menschen, welche im Film gezeigte Gewalt gegen ganz junge Menschen anprangern, auf Menschen, die sagen, sie hätten keine Gewalt gesehen...
Wie kann sowas sein? Eine Erklärung liefert die Beobachtung, dass nicht nur Gewalt in verschiedenen unser Leben betreffenden Kontexten – in Schulen und anderen Institutionen, in den Medien, zwischen den Nationen, gegenüber der Natur – zur Normalität geworden ist und sogar manchen Menschen gar nicht mehr als solche bewusst ist oder auffällt; sondern auch, dass Gewaltakte vielerlei Bezeichnungen erhalten, mit denen sie negiert, bagatellisiert oder gerechtfertigt werden (z. B. als erzieherisch notwendig oder wohlmeinend, als den pädagogischen Standards oder therapeutischen Leitlinien entsprechend – oder auch schlicht als unterhaltsam).
Eine weitere Erklärung liegt in unseren Grundannahmen über den Kern des menschlichen Wesens, in zweierlei völlig konträren Menschenbildern, die unvereinbar sind wie Tag und Nacht: Die Annahme, der Mensch sei in seinem Wesen von Geburt an gut und richtig vs. er sei nicht richtig oder sogar schlecht und böse. Letzteres impliziert Misstrauen, ersteres Vertrauen. Letzteres ruft nach Erziehung (und nach Beschulung), ersteres nach Unterstützung und Begleitung. Letzteres schürt Handeln aus Angst, ersteres nährt Handeln aus Liebe.
CaRabA basiert ganz klar auf einer positiven Grundhaltung dem Menschen gegenüber, die in jedem – insbesondere zwischengenerationellen – Kontakt zwischen den Protagonisten mitschwingt.
Dieser ist durchweg und ausnahmslos geprägt von Authentizität, Vertrauen und Respekt, was ganz wesentlich darin zum Ausdruck kommt, dass jede der Äußerungen der jungen Menschen auf ein Gegenüber trifft, welches sie als ebenbürtig anerkennt und ernst nimmt. Das Ernstnehmen ist die entscheidende Konsequenz der Grundannahme eines positiven Menschenbildes.
Die Welt, die wir in CaRabA erleben dürfen, hat die Befreiung von einem alten Erbe, vor der wir derzeit noch stehen, geschafft.
Ein schweres Erbe, welches in Elternschule nun so sichtbar wird, dass es die Reaktionen vieler Menschen hervorruft. In dem Dokumentarfilm wird gleich zu Beginn ein Bild des Menschen propagiert, welches den Nachwuchs bereits (oder gerade) als Säugling als Feind seiner Eltern darstellt, vor dem es sich zu schützen und den es in Zaum zu halten gilt: „ein knochenharter Bursche“, „der größte Egoist auf dem Planeten“, der „ein Heidentheater“ macht, „auf den Knopf drückt“ und seine Eltern „um den Finger wickelt“ und einem „Belastungstest“ unterzieht, bis sie „mit dem Rücken zur Wand“ stehen. Dieses Menschenbild und die damit verbundene feindselige Haltung bilden die Basis eines Handelns, welches von Distanz, Kälte, Emotionslosigkeit und Kalkül begleitet ist und in welchem gerade nicht das Ernstnehmen der Äußerungen des jungen Menschen (und seiner nahen Bezugspersonen) sowie eine gesunde Resonanz darauf erkennbar wird. In Elternschule finden sich junge Menschen in Gegenwart von Erwachsenen wieder, die ihnen in Gestalt von Rollen und Funktionen begegnen, die keinen wirklichen, echten oder empathischen zwischenmenschlichen Kontakt spürbar werden lassen und die auf die Beeinflussung und Steuerung von Verhalten(sweisen) begrenzt sind. Es wird schmerzlich für uns sein einzugestehen, dass die ausschnitthafte Darstellung in Elternschule uns einen Spiegel vorhält, in welchem wir eine Beziehungs“qualität“ zu sehen bekommen, die heutzutage einen Großteil der zwischengenerationellen Begegnungen prägt. Jedoch sehen wir zugleich auch schon längst, dass es anders geht. In CaRabA treffen junge Menschen auf ältere Menschen, die sie in ihrem Sein vollständig anerkennen und ihnen mit Echtheit jenseits irgendwelcher Rollen begegnen. Wer hieran Anteil nimmt, wird den Kinosaal verlassen mit dem Verlangen, mehr davon zu sehen, zu hören und zu erleben. Beim Anblick von CaRabA wird den Zuschauern warm ums Herz werden.
Es ist eine ungeheuerliche (Film)Vorstellung, wie unser #LebenohneSchule aussehen würde, in welchem es allen Beteiligten besser geht als heute in einem immer beklemmender werdenden Schulsystem.
CaRabA ist gewissermaßen ein Katalysator für einen soziokulturellen Evolutionssprung, da er darstellt, wie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Bildungslandschaften aussehen, wenn wir ihn vollzogen haben werden.
Das Potenzial, zu einem Wandel beizutragen, hat Elternschule durchaus ebenfalls. Der Film hätte im Grunde einem „Anti-Kriegsfilm“ entsprechen können, wäre er nicht mit dem irreführenden und gefährlichen Zitat der Süddeutschen Zeitung („Für jeden, der selbst Kinder hat, ist dieser Film ein Muss“) quasi als Lehrfilm angepriesen und in einen einengenden Kontext gesetzt worden. Er hält uns einen Spiegel vor, in welchem wir nicht den Krieg auf zwischennationaler, sondern auf zwischengenerationeller Ebene erkennen können. Immerhin hat er eine Welle der Empörung ausgelöst und eine größere Zahl Menschen dazu bewegt, sich zu äußern angesichts der Gewalt, die jungen Menschen im Namen der Erziehung und/oder Therapie widerfährt. Ob wir diesen Spiegel für einen Wandel nutzen, wird davon abhängen, ob die Zweifelhaftigkeit des im Film dargestellten zwischenmenschlichen Umgangs geleugnet wird, oder auch, ob wir bei unseren üblichen Reaktionen in Form von Schuldzuweisungen bleiben, sei es gegenüber den einzelnen Protagonistengruppen („dieses Klinikspersonal“ oder „diese unfähigen Eltern“ oder „diese nervenraubenden, kranken Kinder“) oder gegenüber den aufbegehrenden Zuschauern („diesen hysterischen Müttern“). Oder ob wir darüber hinauswachsen und erkennen, dass es nicht nur um den einen Film und nicht nur um die eine Klinik geht, sondern eine Betrachtung der Gewalt gegenüber heranwachsenden Menschen in einem größeren Zusammenhang notwendig ist, der letztlich zeigt, dass jeder einzelne von uns einen Teil der Verantwortung trägt.
CaRabA ist Teil dieses großen Schrittes. Er antwortet endlich auf unseren dringenden Bedarf an (Vor)Bildern für eine gelingende, gewaltlose Begleitung heranwachsender Menschen.
In der aktuellen Übergangs-Phase der zwischengenerationellen Beziehungsgestaltung, in der wir uns befinden, einer Phase der Orientierung und des Suchens, die von ganz viel Unsicherheit, Angst und Verwirrung bei Müttern und Vätern geprägt ist (die in extremsten Fällen zu Situationen führen können wie die der Familien in Elternschule), wird genau diese Unsicherheit von Liebhabern des feindseligen Menschenbildes kleiner Tyrannen fehlinterpretiert, indem sie die Mütter und Väter als unfähig stigmatisieren und nach der Rückkehr zu alten Erziehungsmethoden in neuem Gewand rufen (die längst wieder zu viel um sich gegriffen haben, wo wir sie schon überwunden geglaubt hatten). Echte lebendige Vorbilder für eine fried- und liebevolle zwischengenerationelle Beziehungsgestaltung gibt es kaum und aufgrund der derzeit noch herrschenden strukturellen Gewalt, die uns alle betrifft, ist eine solche Beziehungsgestaltung ganz schwer umzusetzen. Jedoch reicht es nicht, sich mit Gedanken zu begnügen wie „Es ist halt so“ und „Es geht eben nicht anders“. Sobald wir beginnen werden, die Frage der Vermeidbarkeit in unsere Überlegungen mit einzubeziehen – „Wäre es vermeidbar (gewesen)? Sollte vermeidbare Gewalt (so z.B. auch ein Schulanwesenheitszwang) nicht vermieden werden?“ – werden wir ganz neue Lösungen finden.
Wenn es überhaupt eines Slogans bedarf für einen Film, dessen Thema an sich lockend genug sein dürfte, so könnte er lauten:
Ein Muss für jeden, der sich Frieden zwischen den Generationen wünscht und einen Ausweg aus der Bildungsmisere herbeisehnt!
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