„Hoffentlich wird es in zwei Jahren so sein, wie in dem Film, dass alle Menschen ernst genommen werden.“
(Nele, 12)
* * *
Auf
die Aussage „Eine Welt ohne Schule – das geht doch gar nicht!“
hat der Spielfilm CaRabA die Antwort. Gewissermaßen hat CaRabA
bereits die Welt bewegt, indem es ihm gelungen ist, weit über einen
Tabubruch hinauszugehen. Hier wird nicht das Unhinterfragbare in
Frage zu stellen versucht, sondern es ist schlichtweg nicht mehr da:
CaRabA
zeichnet die Vision einer Welt ohne Schulen. Diese Vision ist keine
Utopie, sondern wird als echte, authentische, lebensnahe Wirklichkeit
sichtbar und fühlbar.
Der
Film geht dabei weit hinaus über sein Anliegen, die Landschaften des
Frei-sich-Bildens zu malen, um damit eine Grundsatzdiskussion zu
entfachen über das Wesen dessen, was wir „Bildung“ nennen.
Vielmehr zeigt CaRabA menschliches Zusammenleben nach der Überwindung
eines Menschenbildes, welches heute noch dafür verantwortlich ist,
dass unser Nachwuchs in einer Welt heranwächst, die von
individueller und struktureller Gewalt geprägt ist. Einer Welt, in
welcher ihm derzeit noch eine (auch kollektive) Missachtung seiner
Potenzen, seiner Bedürfnisse und seiner Grundrechte widerfährt.
Beispielhaft
zeigt sich unsere aktuelle Lage in einer teils hitzigen
Auseinandersetzung um einen Film, der seit Kurzem die Gemüter bewegt
und eine Kluft zwischen Positionen deutlich macht, die entfernter
nicht voneinander liegen können.
Eine
Kluft, die darin wurzelt, dass Gewalt als Ansichtssache deklariert
wird: der Dokumentarfilm Elternschule.
Eine
Welle des Entsetzens und der Empörung löste allein der Filmtrailer
aus, die im Kontrast steht zu der Selbstsicherheit, mit der die
Filmemacher, die Protagonisten und die Medien den Film und die darin
gezeigten Inhalte vertreten und vermarkten. Völlig widersprüchlich
sind die Reaktionen im Publikum, in welchem Menschen zutiefst
schockiert und weinend sich wiederfinden inmitten von Leuten, die
lachen und nach Filmschluss applaudieren. In Diskussionen in sozialen
Netzwerken treffen Menschen, welche im Film gezeigte Gewalt gegen
ganz junge Menschen anprangern, auf Menschen, die sagen, sie hätten
keine Gewalt gesehen...
Wie
kann sowas sein? Eine Erklärung liefert die Beobachtung, dass nicht
nur Gewalt in verschiedenen unser Leben betreffenden Kontexten – in
Schulen und anderen Institutionen, in den Medien, zwischen den
Nationen, gegenüber der Natur – zur Normalität geworden ist und
sogar manchen Menschen gar nicht mehr als solche bewusst ist oder
auffällt; sondern auch, dass Gewaltakte vielerlei Bezeichnungen
erhalten, mit denen sie negiert, bagatellisiert oder gerechtfertigt
werden (z. B. als erzieherisch notwendig oder wohlmeinend, als den
pädagogischen Standards oder therapeutischen Leitlinien entsprechend
– oder auch schlicht als unterhaltsam).
Eine
weitere Erklärung liegt in unseren Grundannahmen über den Kern des
menschlichen Wesens, in zweierlei völlig konträren Menschenbildern,
die unvereinbar sind wie Tag und Nacht: Die Annahme, der Mensch sei
in seinem Wesen von Geburt an gut und richtig vs. er sei nicht
richtig oder sogar schlecht und böse. Letzteres impliziert
Misstrauen, ersteres Vertrauen. Letzteres ruft nach Erziehung (und
nach Beschulung), ersteres nach Unterstützung und Begleitung.
Letzteres schürt Handeln aus Angst, ersteres nährt Handeln aus
Liebe.
CaRabA
basiert ganz klar auf einer positiven Grundhaltung dem Menschen
gegenüber, die in jedem – insbesondere zwischengenerationellen –
Kontakt zwischen den Protagonisten mitschwingt.
Dieser
ist durchweg und ausnahmslos geprägt von Authentizität, Vertrauen
und Respekt, was ganz wesentlich darin zum Ausdruck kommt, dass jede
der Äußerungen der jungen Menschen auf ein Gegenüber trifft,
welches sie als ebenbürtig anerkennt und ernst nimmt. Das
Ernstnehmen ist die entscheidende Konsequenz der Grundannahme eines
positiven Menschenbildes.
Die
Welt, die wir in CaRabA erleben dürfen, hat die Befreiung von einem
alten Erbe, vor der wir derzeit noch stehen, geschafft.
Ein
schweres Erbe, welches in Elternschule nun so sichtbar wird, dass es
die Reaktionen vieler Menschen hervorruft. In dem Dokumentarfilm wird
gleich zu Beginn ein Bild des Menschen propagiert, welches den
Nachwuchs bereits (oder gerade) als Säugling als Feind seiner Eltern
darstellt, vor dem es sich zu schützen und den es in Zaum zu halten
gilt: „ein knochenharter Bursche“, „der größte Egoist auf dem
Planeten“, der „ein Heidentheater“ macht, „auf den Knopf
drückt“ und seine Eltern „um den Finger wickelt“ und einem
„Belastungstest“ unterzieht, bis sie „mit dem Rücken zur Wand“
stehen. Dieses Menschenbild und die damit verbundene feindselige
Haltung bilden die Basis eines Handelns, welches von Distanz, Kälte,
Emotionslosigkeit und Kalkül begleitet ist und in welchem gerade
nicht das Ernstnehmen der Äußerungen des jungen Menschen (und
seiner nahen Bezugspersonen) sowie eine gesunde Resonanz darauf
erkennbar wird. In Elternschule finden sich junge Menschen in
Gegenwart von Erwachsenen wieder, die ihnen in Gestalt von Rollen und
Funktionen begegnen, die keinen wirklichen, echten oder empathischen
zwischenmenschlichen Kontakt spürbar werden lassen und die auf die
Beeinflussung und Steuerung von Verhalten(sweisen) begrenzt sind. Es
wird schmerzlich für uns sein einzugestehen, dass die
ausschnitthafte Darstellung in Elternschule uns einen Spiegel
vorhält, in welchem wir eine Beziehungs“qualität“ zu sehen
bekommen, die heutzutage einen Großteil der zwischengenerationellen
Begegnungen prägt. Jedoch sehen wir zugleich auch schon längst,
dass es anders geht. In CaRabA treffen junge Menschen auf ältere
Menschen, die sie in ihrem Sein vollständig anerkennen und ihnen mit
Echtheit jenseits irgendwelcher Rollen begegnen. Wer hieran Anteil
nimmt, wird den Kinosaal verlassen mit dem Verlangen, mehr davon zu
sehen, zu hören und zu erleben. Beim Anblick von CaRabA wird den
Zuschauern warm ums Herz werden.
Es
ist eine ungeheuerliche (Film)Vorstellung, wie unser #LebenohneSchule
aussehen würde, in welchem es allen Beteiligten besser geht als
heute in einem immer beklemmender werdenden Schulsystem.
CaRabA
ist gewissermaßen ein Katalysator für einen soziokulturellen
Evolutionssprung, da er darstellt, wie unsere zwischenmenschlichen
Beziehungen und unsere Bildungslandschaften aussehen, wenn wir ihn
vollzogen haben werden.
Das
Potenzial, zu einem Wandel beizutragen, hat Elternschule durchaus
ebenfalls. Der Film hätte im Grunde einem „Anti-Kriegsfilm“
entsprechen können, wäre er nicht mit dem irreführenden und
gefährlichen Zitat der Süddeutschen Zeitung („Für jeden, der
selbst Kinder hat, ist dieser Film ein Muss“) quasi als Lehrfilm
angepriesen und in einen einengenden Kontext gesetzt worden. Er hält
uns einen Spiegel vor, in welchem wir nicht den Krieg auf
zwischennationaler, sondern auf zwischengenerationeller Ebene
erkennen können. Immerhin hat er eine Welle der Empörung ausgelöst
und eine größere Zahl Menschen dazu bewegt, sich zu äußern
angesichts der Gewalt, die jungen Menschen im Namen der Erziehung
und/oder Therapie widerfährt. Ob wir diesen Spiegel für einen
Wandel nutzen, wird davon abhängen, ob die Zweifelhaftigkeit des im
Film dargestellten zwischenmenschlichen Umgangs geleugnet wird, oder
auch, ob wir bei unseren üblichen Reaktionen in Form von
Schuldzuweisungen bleiben, sei es gegenüber den einzelnen
Protagonistengruppen („dieses Klinikspersonal“ oder „diese
unfähigen Eltern“ oder „diese nervenraubenden, kranken Kinder“)
oder gegenüber den aufbegehrenden Zuschauern („diesen hysterischen
Müttern“). Oder ob wir darüber hinauswachsen und erkennen, dass
es nicht nur um den einen Film und nicht nur um die eine Klinik geht,
sondern eine Betrachtung der Gewalt gegenüber heranwachsenden
Menschen in einem größeren Zusammenhang notwendig ist, der
letztlich zeigt, dass jeder einzelne von uns einen Teil der
Verantwortung trägt.
CaRabA
ist Teil dieses großen Schrittes. Er antwortet endlich auf unseren
dringenden Bedarf an (Vor)Bildern für eine gelingende, gewaltlose
Begleitung heranwachsender Menschen.
In
der aktuellen Übergangs-Phase der zwischengenerationellen
Beziehungsgestaltung, in der wir uns befinden, einer Phase der
Orientierung und des Suchens, die von ganz viel Unsicherheit, Angst
und Verwirrung bei Müttern und Vätern geprägt ist (die in
extremsten Fällen zu Situationen führen können wie die der
Familien in Elternschule), wird genau diese Unsicherheit von
Liebhabern des feindseligen Menschenbildes kleiner Tyrannen
fehlinterpretiert, indem sie die Mütter und Väter als unfähig
stigmatisieren und nach der Rückkehr zu alten Erziehungsmethoden in
neuem Gewand rufen (die längst wieder zu viel um sich gegriffen
haben, wo wir sie schon überwunden geglaubt hatten). Echte lebendige
Vorbilder für eine fried- und liebevolle zwischengenerationelle
Beziehungsgestaltung gibt es kaum und aufgrund der derzeit noch
herrschenden strukturellen Gewalt, die uns alle betrifft, ist eine
solche Beziehungsgestaltung ganz schwer umzusetzen. Jedoch reicht es
nicht, sich mit Gedanken zu begnügen wie „Es ist halt so“ und
„Es geht eben nicht anders“. Sobald wir beginnen werden, die
Frage der Vermeidbarkeit in unsere Überlegungen mit einzubeziehen –
„Wäre es vermeidbar (gewesen)? Sollte vermeidbare Gewalt (so z.B.
auch ein Schulanwesenheitszwang) nicht vermieden werden?“ –
werden wir ganz neue Lösungen finden.
Wenn
es überhaupt eines Slogans bedarf für einen Film, dessen Thema an
sich lockend genug sein dürfte, so könnte er lauten:
Ein
Muss für jeden, der sich Frieden zwischen den Generationen wünscht
und einen Ausweg aus der Bildungsmisere herbeisehnt!
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