Sonntag, 29. September 2019

Das Tabu der erzieherischen Gewalt – Ist gewaltfreie Erziehung ein Widerspruch in sich? (überarbeitet)

Diesen Beitrag muss ich unbedingt korrigieren hinsichtlich des Geltungsbereiches des §1631 (2) BGB! Ich möchte meine LeserInnen um Entschuldigung bitten, dass ich aufgrund meines bisherigen und auf Erfahrung beruhenden Wissens behauptet habe, das "Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung" bezöge sich nur auf die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und nicht auf Dritte. Das stimmt so nicht ganz - jedenfalls theoretisch -, wie ich gleich erläutern möchte.
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung markiert die "Grenzen der Personensorge". Dort wo einst Züchtigung geboten, dann zumindest nicht verboten war, ist sie nun untersagt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich das Gesetz ein paar Mal gewandelt (nicht uninteressant und hier nachzulesen) bis zur Fassung aus dem Jahr 2000:
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§1631(2) BGB)
Jedoch ist bemerkenswert zu wissen: Das Konzept „Kindeswohlgefährdung“ geht von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten als Quelle einer Gefährdung aus. Im Zusammenhang mit dem Stichwort "gewaltfreie Erziehung" laut § 1631 (2) BGB wird betont, dass auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dem 8. Sozialgesetzbuch (SGB VIII), eine entsprechende Änderung im "§ 16 Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie" erfolgt ist, dass nämlich Eltern Wege aufgezeigt werden sollen, "wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können". Zeigt: "Gewaltfreie Erziehung" ist mit "Eltern" assoziiert.

Das Jugendamt ist bezüglich des Kindeswohls als Wächteramt zuständig. Das Konzept „Kindeswohlgefährdung“ geht nicht primär auch von anderen Quellen einer Gefährdung aus, z. B. in Schulen tätigen Menschen. Für Gewalt, die junge Menschen in Schulen erfahren, ist das Jugendamt nicht zuständig (laut eigener Aussage, die mir von mehreren Familien schon berichtet wurden).
Wäre dieses Recht dem Menschen zugeordnet, müsste jeder junge Mensch sein Recht auf gewaltfreie Erziehung gegenüber jedem "Erziehenden" geltend machen können... Ein Jugendamt, dem es um das Wohl des jungen Menschen geht, müsste ihn/sie eigentlich genau dabei unterstützen...

Mir scheint es wichtig anzumerken, dass gesetzlich auch verankert ist, dass Mütter und Väter nicht dulden dürfen, wenn das Recht auf Gewaltfreiheit durch Dritte verletzt wird bzw. verpflichtet sind, eine Gefährdung durch Dritte abzuwenden. Aus meiner beruflichen Praxis weiß ich, dass dies nicht selten zu Zwickmühlen führen kann, in denen sehr sorgfältige Überlegungen zum Umgang damit ratsam sind.
Darüber hinaus: Es ist schon interessant, dass es einen §1631(2) braucht.
Wir haben einen Artikel 1 im Grundgesetz:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Wir haben einen Artikel 2 im Grundgesetz:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Wir haben einen Artikel 3 im Grundgesetz:

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Einzig fehlend und notwendig ist eine Ergänzung in Satz 3 (und zwar entgegen aller irrigen Behauptungen und Bemühungen, wir bräuchten „Kinderrechte“ im Grundgesetz, mit denen wir eine ohnehin bestehende Diskriminierung noch mehr verankern!):

Niemand darf wegen seines Alters, seines Geschlechtes, seiner Abstammung ... benachteiligt oder bevorzugt werden. ...

Dann erübrigte sich der §1631(2) bzw. könnte die Neufassung 2020 werden:
Menschen – insbesondere auch die jungen Menschen unter 18 Jahren - haben ein Recht auf ein gewaltfreies Leben. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind – selbstverständlich – unzulässig!
Um die Haltung all jener Menschen zu erforschen und zu reflektieren, die diese ethische Haltung nicht erkennen und verstehen können (oder wollen), müssen wir Beispiele und Erlebnisse zusammentragen, die ihr Menschen da draußen tagtäglich wahrnehmt und erlebt.
Junge Menschen sind nicht verschont von (körperlichen) Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen – im Gegenteil scheinen diese im Namen der Erziehung in der Praxis (teilweise sogar wieder vermehrt) erlaubt oder gar geboten zu sein (nicht gesetzlich, aber "fachlich"). Ja, und gerade auch in Krippen, Kitas und Schulen...

* * *
Mein Wunsch ist es, die Vielfalt erzieherischer Gewalt sichtbar zu machen, unter der heranwachsende Menschen täglich zu leiden haben. Schreibt mir Eure selbst erlebten oder gehörten Anekdoten, Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen an
erziehungsgewaltreport@gmx.net
(Adressat bin ich und interessierte EinsenderInnen werden über die weitere Entwicklung des Projektes informiert.)

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Und für die, die es noch nicht kennen und/oder noch mitmachen wollen:


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Montag, 16. September 2019

Das Tabu der erzieherischen Gewalt außerhalb der Familie

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch §1631(2) und bezieht sich auf die elterliche Sorge. Junge Menschen haben also ein Recht darauf, von elterlicher Gewalt verschont zu bleiben. Ob und in welchem Rahmen und Umfang ihnen dieses in der Praxis tatsächlich zugestanden wird, steht auf einem anderen Blatt, das Gesetz jedoch billigt ihnen das Recht auf Gewaltfreiheit zu...
Was ist jedoch mit der Gewalt sogenannter Dritter? Erzieherische Gewalt außerhalb der Familie ist ein großes Tabu! Was ist mit Gewalt seitens Menschen, die innerhalb der Institutionen – Schulen, Kitas usw. – erziehen, fördern, beschulen, beaufsichtigen usw.? Haben „Kinder“ dort ebenfalls ein Recht auf gewaltfreie Erziehung und darauf, von seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen verschont zu bleiben? Bleiben sie verschont?
Im nahen wie im weiteren Umfeld höre ich Geschichten, die zusammengetragen werden müssten, um diese Frage gebührend zu beantworten und aufzuzeigen, wie es um die (normale) erzieherische Gewalt gegenüber jungen Menschen steht. Jeden, der seine Erfahrungen und Beispiele einbringen möchte, lade ich ein, mir davon zu berichten.
Welche Situationen erlebt ihr, sehr ihr, hört ihr, die in euren Augen Gewalt sind?
Wenn Du ein junger Mensch bist: Erlebst Du Bestrafung, seelische Verletzungen oder entwürdigende Maßnahmen?
Wenn Du Mutter oder Vater bist oder jemand anders, der junge Menschen im privaten oder beruflichen Leben um sich hat: Was siehst Du, nimmst Du wahr, wird Dir erzählt, was Du als Gewalt ansiehst?
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Mein Wunsch ist es, die Vielfalt erzieherischer Gewalt außerhalb der Familie sichtbar zu machen, unter der Kinder und Jugendliche täglich zu leiden haben. Teilt diese Einladung mit anderen. Schreibt mir Eure selbst erlebten oder gehörten Anekdoten, Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen an
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Hier ein Auszug aus dem Aufruf „Gewalt? Ohne mich!“

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