Heute, am 15. September, ist der Internationale Tag der Bildungsfreiheit. Mit dem Begriff "Bildungsfreiheit" konnte ich mich ja noch nie anfreunden. Dennoch bin ich froh, dass es diesen Tag gibt, der eine gute Gelegenheit bietet, Freiheit im Zusammenhang mit Bildung zu thematisieren. Wieso mag ich den Begriff Bildungsfreiheit nicht? Zum einen könnte man ihn zweideutig verstehen, wobei keine der beiden Bedeutungen dem entspricht, was mir am Herzen liegt.
Bildungsfreiheit: Wollen wir Freiheit von Bildung, also frei von Bildung sein? Analog zu rauchfreien oder autofreien Zonen in unserem Lebensumfeld? So quasi als Synonym zu "schulfrei": "Yeah, endlich bildungsfrei!" Aber nein - also Scherz beiseite: Natürlich steckt dahinter der Wunsch, die Bildung möge frei sein. So war ich vor mehreren Jahren einmal auf einer Tagung, in der es um die "Befreiung des Bildungswesens" ging, und so interessant ich den Austausch damals durchaus fand, so falsch am Platz fühlte ich mich am Ende des Tages, als mir klar wurde: Moment mal, was ist mit dem Menschen selbst? Um ihn geht es nicht?!
Mir geht es um den Menschen, insbesondere im Rahmen dessen, was als "Bildungswesen" verstanden wird - nämlich das "Schulwesen" - um den jungen Menschen. Um seine Freiheit, sein Recht zu wählen, seinen Bildungsweg zu gestalten, sein Recht, frei sich zu bilden!
Schaue ich mir an, woher dieser Gedenktag eigentlich kommt, geht es mir umso weniger um "Bildungsfreiheit", wenn darunter die Legalisierung von Hausunterricht verstanden wird...
So möchte ich nun einen im Jahr 2018 in der Zeitschrift die freilerner erschienenen Artikel von mir hier veröffentlichen, den ich neulich wiederentdeckte (und selbst von meinem eigenen Werk ganz angetan war), nachdem mich jemand fragte, was ich denn gegen den Begriff "Freilernen" habe. Ja, ich habe mich auch mit diesem Begriff nie anfreunden können.
Lest nun gern selbst meine Antwort auf das Titelthema der Ausgabe:
Wie frei kann Schule sein?, die lautete:
So frei wie möglich,
aber niemals so frei wie nötig?
Vor einigen Wochen war ich zu einer
Vortragsreihe in der Freiburger Universität eingeladen mit dem Titel
„Schule neu denken“ und gab meinem Vortrag den Titel „Sind
alternative Schulen alternativ genug?“ Ich spielte im Vorfeld mit
dem Gedanken, frank und frei heraus mit der Beantwortung dieser Frage
zu beginnen, die etwa so gelautet hätte: „Um gleich mit der Tür
ins Haus zu fallen: Auf keinen Fall!“ Da ich nicht wusste,
inwieweit ich mich in die Höhle des Löwen begeben würde – in
meiner Vorstellung mitten hinein in einen Saal voller
Lehramtsstudierender – und niemanden vor den Kopf stoßen wollte,
ließ ich das sein und verhielt mich diplomatisch. In der
Freilerner-Zeitung darf ich vielleicht etwas direkter sein bei der
Beantwortung des Titels „Wie frei kann Schule sein?“: „So frei
wie möglich, aber niemals so frei wie nötig!“
Schauen wir uns einmal an, mit welcher
Intention wir diese Frage stellen: Mit Sicherheit aus dem Wunsch
heraus, dass sich etwas ändern möge – so wie es jetzt ist, soll
es nicht bleiben! Wo wollen wir hinsichtlich einer Änderung
ansetzen? Von welchem Ausgangspunkt laufen wir los? Zwei Ausgangs-
bzw. Ansatzpunkte für Veränderungen gibt es, die vollkommen
verschieden sind und zu Erkenntnissen und Schlussfolgerungen führen,
die sich nicht zu einem Kompromiss vereinigen lassen. Um das zu
verdeutlichen, zitiere ich eine Textstelle aus dem Buch „Befreit
lernen – Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt“ von Peter Gray,
amerikanischer Professor für evolutionäre Entwicklungspsychologie
(mit dem Forschungsschwerpunkt des Spielens als Grundlage
menschlichen Lernens):
„Wenn sie Bildung hören, denken
die meisten Leute heutzutage an Schule. Mit anderen Worten: Sie
stellen sich Bildung als etwas vor, was Kindern von Erwachsenen
gegeben wird. ...“
Damit haben wir
den einen Ausgangspunkt: die Schule! Sie wird schon ebenso lange
kritisiert, wie es sie gibt, und ebenso lange wird sie reformiert und
zu reformieren versucht. Wie frei kann Schule sein? Dazu fallen
bestimmt vielen Menschen Änderungsideen ein, denn es gibt sehr viel
– unendlich viel – zu verbessern... und es gibt zahlreiche
ambitionierte, engagierte, nachdenkliche und wohlwollende Menschen,
die die Schule zu verbessern versuchen …
„... Bildung ist jedoch weitaus
älter als jede Schule und selbst heute findet der überwiegende Teil
der Bildung außerhalb der Schule statt. Wenn ich sage, dass wir das
lernfähige Tier sind, will ich damit auch ausdrücken, dass in uns
Instinkte angelegt sind, die uns antreiben, uns die Kultur, in die
wir hineingeboren werden, zu erwerben und darauf aufzubauen. ...“
Damit haben wir den
anderen Ausgangspunkt: den Menschen! In
diesem Zitat werden mehrere Aspekte deutlich: Den Menschen gibt es
schon viel länger, als es die Schule gibt. Er bildet sich schon viel
länger, als er in der Schule lernt (bzw. zu lernen versucht). Die
Fähigkeit, sich zu bilden, wohnt dem Menschen inne, ist in ihm
biologisch angelegt, ist angeboren.
„... In den
Köpfen der meisten Menschen ist Bildung eine Sache der Erwachsenen,
die auch dafür verantwortlich sind, dass Kinder sich gewisse Teile
der Kultur aneignen, ob die Kinder dies nun wollen oder nicht. In der
gesamten Menschheitsgeschichte war es jedoch so, dass Bildung in
Wirklichkeit die Sache der Kinder selbst war – und so ist es auch
heute noch. Kinder kommen nicht nur mit den instinktiven Trieben, das
zu trinken und zu essen, was sie zum Überleben brauchen, zur Welt,
sondern auch mit dem instinktiven Trieb, sich selbst zu bilden, also
das zu lernen, was sie benötigen, um erfolgreiche Mitglieder der
Kultur, die sie umgibt, zu werden und dadurch zu überleben.“
Diese Erkenntnis spiegelt genau beide Ausgangspunkte wieder. Wessen
Sache, wessen Angelegenheit ist also Bildung? Die eines jeden
(betroffenen) Menschen selbst oder die anderer? Wer definiert, was
Bildung ist, wer gebildet ist, wer ungebildet ist? Je nachdem, wie
wir die Frage beantworten, ob Bildung „eine Sache der Erwachsenen“
oder „die Sache der Kinder“ ist, kommen wir zu völlig
entgegengesetzten Positionen und letztlich Schlussfolgerungen, die
unvereinbar sind (ebenso wie zwei Menschen nicht zusammenfinden
können, von denen der eine denkt, der Mensch sei von Grund auf
„böse“, und der andere, er sei von Grund auf „gut“).
Befinden wir uns im Gespräch mit jemandem, der die jeweils andere
Position vertritt, so ist es wichtig zu erkennen, dass wir sehr
wahrscheinlich Fragen auf der Inhaltsebene nicht gemeinsam werden
klären können! Daher ist nun sinnvoll, auf der Beziehungsebene zu
kommunizieren – auf der Metaebene: die Kommunikation über die
Kommunikation – und zu fragen: Was machen wir nun mit diesen
unvereinbaren Positionen?
Wollen wir nun die Frage klären „Wie frei kann/soll/muss Schule
sein?“, so werden wir uns in endlosen Ideen über
veränderungsbedürftige Details und in unendlichen Diskussionen über
Fürs und Widers verlieren. Dabei geraten meiner Erfahrung nach die
Betroffenen selbst – die Menschen, um die es unmittelbar geht –
vollkommen aus dem Blick. Dies lässt sich anhand einer Frage, der
Schlüsselfrage, auf den Punkt bringen: Angenommen, ein junger
Mensch sagt zu unserer bestgemeinten und wohldurchdachten
vorbereiteten Umgebung, zu der Schule, die wir in größter Sorgfalt
gestaltet hätten „Nein, danke“ – was wäre dann? Peter Gray
sagt „the most basic freedom is the freedom to quit“ –
„Die grundlegendste aller Freiheiten, ist die Freiheit, etwas
abbrechen und weggehen zu können“. Jean Jacques Rousseau sagte:
„Freiheit bedeutet nicht, dass man alles tun kann, was man will,
sondern dass man nicht tun muss, was man nicht will.“ Dies ist die
Antwort auf die Frage „Wie frei muss Schule sein?“: Schule –
und nicht nur eine bestimmte Schule, sondern Schule an sich –
müsste so frei sein, dass einem Menschen grundsätzlich eine
Wahl zugestanden wird! „Wie frei kann Schule sein?“ Im
Grunde nur so frei, wie es die Normen zulassen, sowohl die in Gesetz
gegossenen, als auch diejenigen in jedem einzelnen Kopf. Viele
Menschen machen die schmerzliche Erfahrung, dass der eigene Anspruch
und die eigenen Idealvorstellungen sich nicht unter den realen
Gegebenheiten und Umständen verwirklichen lassen. Hier ist die große
Herausforderung, einerseits Frieden zu schließen mit der
Wirklichkeit und andererseits nicht zu resignieren und sich selbst
als Gestalter dieser Wirklichkeit zu erleben. Als Gestalter können
wir uns zum Beispiel dann erleben, wenn wir das uns Mögliche tun, um
im Dialog mit den Mitmenschen zu stehen, die in der Frage der Schule
involviert sind.
Es hat sich als empfehlenswert herausgestellt, über unsere
Begrifflichkeiten nachzudenken und mit ihnen bewusst und reflektiert
umzugehen, daher einige Worte zu den aus meiner Sicht Wichtigsten.
Hierbei ist es vielleicht wichtig zu betonen: Es geht keinesfalls um
irgendwelche Vorschriften über ein Vokabular, das jemand verwenden
oder nicht verwenden „sollte“. Ganz unabhängig davon, wie wir
selbst bestimmte Worte definieren, was wir damit meinen oder nicht
meinen, so ist es wichtig zu bedenken, wie sie in bestimmten
Kontexten oder von anderen Menschen womöglich empfunden und
definiert werden. So empfinden die meisten Menschen das Wort Kind
als selbstverständlich, unproblematisch und positiv besetzt.
Wenn es allerdings darum geht darzustellen, dass einer Gruppe von
Menschen gerade deshalb, weil sie „Kinder“ seien, Grundrechte
abgesprochen werden und mehr oder weniger subtile Gewaltmaßnahmen
angetan werden dürfen, die bei „Erwachsenen“ nicht hingenommen
würden, so kann es entscheidende Auswirkungen haben, hier nicht mehr
von „Kindern“, sondern schlichtweg und bewusst von Menschen
zu sprechen. (Schließlich reden wir z.B. auch nicht mehr einfach so
von „Weibern“ oder „Negern“ oder auch beim Wort „Führer“
zuckt vielleicht der ein oder andere zusammen, es geht mir jedoch
nicht in erster Linie um etwas wie political correctness, sondern
mehr um Achtsamkeit und Bewusstheit der Wirkung mancher Begriffe in
bestimmten Zusammenhängen.)
Das Wort Bildung beinhaltet die Vorstellung, dies sei ein Gut,
das jemand erwerben könne – oder auch nicht. Es beinhaltet die
Vorstellung, dass es auch „Unbildung“ gibt bzw. einen „Mangel
an Bildung“. Wenn wir von „Bildung“ sprechen, dann tun wir so,
als sei dies eine Sache, etwas klar Festzulegendes. „Bildung“
ist ein Konstrukt, das sich jemand ausgedacht hat, indem je
nach Kontext definiert wird, was damit gemeint ist. So mag dies nicht
zu jeder Zeit in der Geschichte und an jedem Ort auf der Welt das
Gleiche sein, demnach ein und derselbe Mensch in einem Kontext als
gebildet, in einem anderen als ungebildet gelten kann. Stellen wir
uns vor, „Bildung“ sei in irgendeiner Form definiert, so wäre es
an sich nicht unbedingt problematisch, sofern der Mensch selbst –
als Subjekt, als aktiver Gestalter seines Lebens, als Wählender –
sich entscheidet, diese zu erwerben oder auch nicht (je nachdem, ob
ihm dies stimmig und nützlich erschiene). Einem „Recht auf
Bildung“ eines Menschen würde entsprochen werden, indem ihm
Möglichkeiten zu deren Erwerb und Unterstützung zur Verfügung
gestellt(!) würde. Die als Synonym von Bildung betrachtete
Schule engt das Konstrukt noch einmal ganz grundlegend ein,
indem sie mit ihren Lehrplänen und Notensystemen eine ganz rigide
Definition von Bildung vornimmt. Es ist allein schon fatal „Bildung“
mit „Schule“ gleichzusetzen, da es hier nicht um ein
Zur-Verfügung-Stellen geht, sondern gewissermaßen um ein Verordnen,
nämlich in Form der Beschulung: Hierbei ist der Mensch nicht
Subjekt, aktiver Gestalter, Wählener, sondern Objekt von
Erwartungen, Bewertungen und Maßnahmen anderer, höchstens
Mitgestalter und jedenfalls Pseudo-Wählender.
Anders
steht es um den Prozess und die menschliche Fähigkeit des
Sich-bildens:
Wesensbedingt ist der Mensch wie alle Lebewesen ein autopoietisches,
also sich selbst erzeugendes System. Zwar nimmt er Informationen aus
seiner Umwelt auf und verarbeitet sie, wesentlich dabei ist
allerdings, dass er autonom
entscheidet, was mit diesen Informationen geschieht! Der Mensch ist
demnach – und zwar von Beginn des Lebens an – das kompetente
Subjekt dieses Prozesses. Ebenso wie er „nicht nicht
kommunizieren“ kann (wie der Kommunikationswissenschaftler Paul
Watzlawick zu sagen pflegte), kann er auch nicht nicht
sich bilden! Angesichts dieses grundlegenden Kennzeichens als
Lebewesen ist die Vorstellung, einen Menschen zu formen, zu
instruieren, zu belehren – also die der Beschulung – vollkommen
absurd, abwegig und sogar respektlos. Den Ausdruck Frei-sich-bilden
prägt der Philosoph Bertrand Stern in einmaliger Klarheit und
Kompromisslosigkeit. Seine radikale Position löste in vergangenen
Jahrzehnten Widerstand und Belächeln bei vielen Menschen aus, in den
letzten Jahren allerdings stößt sie stetig wachsend auf fruchtbaren
Boden des Verstehens und eines Wandels. Wessen Angelegenheit es ist
nun, dass ein Mensch (frei) sich bildet?
Der
Begriff Freilernen wird
immer bekannter. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Begriff sich
in Deutschland als problematisch erweisen kann. Auch wenn es jedem
selbstbestimmten jungen Menschen zusteht, sich als Freilerner
zu bezeichnen, ist es ratsam sich darüber bewusst zu sein, ob dieser
Begriff wirklich passt. Erstens: Freilernen definiert sich über die
Abgrenzung zur Norm Schule. Freilernen passt genaugenommen dann, wenn
ein junger Mensch sich zwar von der Schule selbst distanzieren,
jedoch das Schulische
gern in eigener Verantwortung und Gestaltung sich aneignen, lernen
möchte. Sobald allerdings Mütter und Väter bzw. Familien sich als
Freilerner definieren, entsteht ein Deutschland eigenes Problem: Da
„Lernen“ ein stark mit Schule assoziierter Begriff ist,
schulisches Lernen festgelegt, gesteuert und zielgerichtet ist und
das gesamte Schulwesen staatlich beaufsichtigt wird, laufen
„Freilerner“ Gefahr, als Bedrohung wahrgenommen zu werden und
wecken allerlei Vorurteile und Ängste, z.B. hinsichtlich sogenannten
Parallelgesellschaften. Meinem Verständnis nach kann Freilernen
nicht als deutsche Entsprechung oder Übersetzung dessen angesehen
werden, was im englischsprachigen Raum als Unschooling
bezeichnet wird. Unschooling findet jedoch im Begriff Nichtbeschulung
einen vielleicht angemessenen
Ausdruck, worin deutlich wird, dass es hier nicht nur um eine
Distanzierung von der Institution Schule geht, sondern um eine
Distanzierung von der Beschulung. Nichtbeschulung ist im Grunde die
verneinende Entsprechung des Begriffes Frei-sich-bilden und durchaus
sinnvoll, da ein junger Mensch es so empfinden könnte: „Ich möchte
selbstverständlich frei mich bilden und lehne es daher ab, beschult
zu werden.“ Hier schließt sich der Kreis zum (Selbst-)Verständnis
des Menschen, wie es Peter Gray beschreibt.
Womöglich
könnte die Frage „Wie frei kann Schule sein?“ die falsche Frage
sein. Vielleicht wäre es passender zu fragen „Welche Bedingungen
müssen wir schaffen, damit (heranwachsende) Menschen sich bilden
können? Welche Bedingungen ermöglichen
(jungen) Menschen frei
sich zu bilden? Wie gewährleisten wir jedem Menschen den Zugang
zu Bildung? Oder auch –
um mit Peter Grays Worten abzuschließen: Wie unterstützen wir uns
lernfähige Tiere die in
uns angelegten Instinkte,
die uns antreiben, uns die Kultur, in die wir hineingeboren werden,
zu erwerben und darauf aufzubauen,
zur Entfaltung zu
bringen? Wie frei kann Frei-sich-bilden sein? Wahrscheinlich
grenzenlos!